Christina von Braun - Bibliografie

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Cover von Stille Post. Eine andere Familiengeschichte

Christina von Braun,
Stille Post. Eine andere Familiengeschichte

Propyläen, Berlin 2007, 416 Seiten, mit Photos, € 22,00

Nominierung

Das Buch war nominiert für den Buchpreis der Leipziger Buchmesse 2007 in der Kategorie "Sachbuch/Essayistik".

Pressetext

Familiengeschichten haben offene und verborgene Gesichter, sie werden auf laute und verschwiegene Weise von Generation zu Generation weitergegeben. Die Kulturtheoretikerin und Filmemacherin Christina von Braun geht dieser Form von Erinnerungskette nach. Am Beispiel ihrer eigenen Familie zeigt sie, wie widersprüchlich innerhalb ein und derselben Familie Biographien verlaufen können und wie Erinnerungen, die niemand laut formuliert hat, dennoch in der übernächsten Generation ankommen. In dieser Familiengeschichte liegt der Schwerpunkt auf den Frauen: auf der Großmutter Hildegard Margis, die 1944 von der Gestapo verhaftet wurde und im Gefängnis starb; auf den Tagebüchern, die Emmy und Hildegard von Braun in den Jahren 1944 bis 1949 führten. Als die Großmutter ums Leben kam, war ihre Enkelin nur drei Monate alt. Aber die verschwiegene Erinnerungskette der ‚Stillen Post’ bewirkte, dass sich diese Berliner Großmutter, die zur ersten Generation von Frauen gehörte, die das aktive und passive Stimmrecht erhielt und davon Gebrauch zu machen wusste, überall einmischte im Leben ihrer Enkelin. In Briefen an die Großmutter erzählt die Autorin davon, wie sie ihr, ohne es zu wissen, immer wieder begegnet ist. Und sie erzählt uns von den vielen Facetten ihrer Familiengeschichte: vom Berlin der 1920er Jahre, Nazideutschland, der Emigration eines Onkels nach England, dem Tod der Großmutter, der Arbeit der Onkels in Peenemünde, den Eltern, die es im Krieg nach Afrika und dann in den Vatikan verschlug, die ‚Vertreibung’ der Großeltern aus Niederschlesien nach dem Krieg. Aus den unterschiedlichen Lebenswegen setzt sich allmählich ein Gesamtbild deutscher Geschichte von 1920 bis 1950 zusammen.

Vorschau

Die „inoffiziellen” Erinnerungen einer Familie nehmen merkwürdige Wege, um bei den folgenden Generationen zu landen. Manches steht in Tagebüchern und Briefen, anderes vermittelt sich durch Schweigen und Auslassungen, durch Fehlleistungen und Assoziationen. Einige Personen tragen die verschwiegenen Erbschaften weiter, andere lehnen sie ab. Wie beim Kinderspiel „Stille Post” werden diese geflüsterten Informationen vom Empfänger aufgenommen – und ungewollt verwandelt. Am Ende der Kette ist die Botschaft nicht mehr, was sie am Anfang war. Der „Stillen Post” ist die Wahrheit egal. Dennoch transportiert sie eine (verborgene) Wahrheit.

Vor allem Frauen waren und sind Agenten dieser verschlüsselten Kommunikation der Generationenketten. Sie tragen ihre Geheimnisse, ihre unerwünschten, subversiven, illegalen Nachrichten in einen Untergrund, der gegen die offizielle Geschichtsschreibung aufbegehrt. Die „Stille Post” erzählt das Unmittelbare und Intime des Ichs, so wie es im Augenblick empfunden wurde – anders als das „männliche Ich”, das die eigenen Erinnerungen in Memoiren und großen Synthesen rückblickend ordnet und in „der Geschichte” unterbringt. Christina von Braun vermutet, dass die Gesellschaft der weiblichen „Flüsterkette” einige ihrer wichtigsten Botschaften anvertraut. Bei ihrer Spurensuche in der eigenen Familie lernte die Berliner Kulturwissenschaftlerin, das Alphabet der „Stillen Post” allmählich zu verstehen.

Erste Absenderin ist eine Großmutter, deren Lebensweg sich nicht mehr mit dem der Enkelin kreuzte. Im Laufe der Recherche entpuppt sich das Leben von Hildegard Margis als faszinierende, prägende Erbschaft. Jung verwitwet und auf sich allein gestellt, wurde diese energische Person zu einer erfolgreichen Unternehmerin und Protagonistin der Frauenbewegung der 20er Jahre. Als Expertin für „rationelle Haushaltsführung” machte Hildegard Margis eine steile Karriere mit Radio, einem Verlag und Büchern, in denen Ratschläge zum „fortschrittlichen” Umgang mit Küchentechnik, Nahrungsmitteln und Geldfragen erteilt wurden. Wie viele Frauen ihrer Generation nutzte sie ihre neue Freiheit und das politische Mitspracherecht auf gewitzte, selbstbewusste Weise.

Trotz dieser modernen Gedanken wurde die „Hausfrauenbewegung” der Weimarer Republik, auch Hildegard Margis vom nationalistischen Wahnsinn mitgerissen. Die Ernüchterung folgte mit dem Wahlsieg der Nazis. Das Lebenswerk von Hildegard Margis geriet in den Reißwolf der Geschichte. Sie nahm Kontakt zu einer kommunistischen Widerstandsgruppe auf, wurde von der Gestapo verhaftet und starb 1944 im Gefängnis. Ihren Sohn Hans hatte sie bereits 1936 nach London geschickt, um dem begeisterten ‚Jungstahlhelm‘-Mitglied sein voraussehbares Schicksal zu ersparen. Erst im Ausland erfuhr Hans von seiner jüdischen Herkunft, gegen Ende des Krieges begann er ein neues Leben in Australien.

Die zweite wichtige Übermittlerin der „Stillen Post” ist Hilde von Braun, die Mutter der Autorin. Als Ehefrau eines Diplomaten war ihre Domäne die Repräsentation und der Umgang mit „bedeutenden” Männern, in deren Dienst sie sich stellen wollte. Die Kriegszeit verbrachten die von Brauns in Afrika und Rom, wo 1944 ihre Tochter Christina geboren wurde. Das bis 1949 geführte „vatikanische Tagebuch” der Mutter ist die aufmerksame Beschreibung einer von Männern in schwarzen Soutanen bevölkerten Insel, die an der Unveränderbarkeit der Welt festhalten. Im Kontrast dazu erzählt das „schlesische Tagebuch” der Großmutter Emmy von Braun von einem untergehenden ostelbischen Junkertum, das im Jahr 1946 seine Güter verlor. In beiden Tagebüchern wie in der Biographie der Hildegard Margis stellt sich die Frage nach der Rolle der Frau in den Gesellschaften des 20. Jahrhunderts. Die vielen Lebenswege dieser herausragenden Familie kreuzen sich im Berlin der 1930er Jahre und enden in der neuen Welt.

Impressum - letzte Aktualisierung: 1.9.2008